Gegen Goethe
Performance
Johanna Mitulla und Emil Borgeest


Oktober 2023
Schillerplatz 
Akademie der bildenden Künste Wien
Volkstheater Wien 

Mit Frank Genser, Irem Gökçen und Emil Borgeest 
Komposition: Lukas Katzer 
Dramaturgie: Henning Nass 

Die Arbeit war Teil einer Kooperation zwischen der Akademie der bildenden Künste und dem Volkstheater Wien. Die Auftaktveranstaltung der Debattenreihe *Platz nehmen* fand auf dem Schillerplatz statt und widmete sich den beiden einander gegenüberstehenden Statuen von Friedrich Schiller und Johann Wolfang von Goethe. Das Ausgangsmaterial der Performance war das Pamphlet *Gegen Goethe* des französischen Schriftstellers Jules d’Aurevilly. In enger Zusammenarbeit mit Johanna Mitulla vom Volkstheater Wien widmeten wir uns der Frage, wie eine Auseinandersetzung mit einer längst vergangenen Zeit aussehen und was dadurch mit der Gegenwart bzw. der allseits gefürchteten Zukunft passieren kann. Dabei wurden biografische Anekdoten und physikalische Phänomene mit den Texten von Jules d’Aurevilly in ein neues Verhältnis gesetzt. Ziel der Arbeit war es, [mithilfe des Theaters] die Zeit rückwärts laufen zu lassen, Geister heraufzubeschwören und die Schwerkraft zu überwinden.

TRAILER

© eSeL REZEPTION

TEXT

Emil
Hallo! Herzlich Willkommen auf dem Schillerplatz. Mein Name ist Emil Borgeest. Schön, dass Sie da sind. Im ersten Teil unserer Performance möchte ich Ihnen von einem Moment erzählen, den ich als 9 jähriger Schüler erlebt habe. Mit dem Beginn der dritten Klasse wurde an meiner damaligen Grundschule das Konzept der Strafarbeit eingeführt. Diejenigen, die unkonzentriert waren, ihre Hausaufgaben vergessen oder sonst etwas durcheinander gebracht hatten, wurden von der Lehrerin verpflichtet, eine Ballade auswendig zu lernen um sie dann eine Woche später der Klasse zu präsentieren. Die einzigen Texte die dafür zur Auswahl standen waren Der Handschuh von Friedrich Schiller oder Der Zauberlehrling von Johann Wolfgang von Goethe. Nach mehreren Ermahnungen der Lehrerin - ich hatte mich wohl daneben benommen - war auch ich irgendwann an der Reihe, einen der beiden Texte zu lernen. Ich entschied mich für die Ballade von Friedrich Schiller und verbrachte nun die Nachmittage damit, die Vorlage zu memorieren. Inhalt und Aussage des Textes blieben mir - also meinem 9 Jährigen Ich - unverständlich. Das Stichwort *Ritter* gab mir zu verstehen, dass der Text wohl von einer Zeit spricht und / oder aus einer Zeit stammt, die längst der Vergangenheit angehört. Ob ich in dem Moment der Präsentation den Text fehlerhaft oder fehlerfrei wiedergab, weiß ich nicht mehr. Aber ich wage zu behaupten, dass nicht nur ich, sondern auch meine Klassenkamerad*innen mir und / oder dem Text nur schwer folgen konnten und sich ebenfalls [wie ich, in den Stunden des Lernens] mit Wildkatzen, Käfigen und einem Kleidungsstück konfrontiert sahen - in einem Sprachgestus, der nicht der unsere war. Unabhängig von der Verständlichkeit des Textes [bzw. meiner Darbietung] markierte die Lehrerin [durch die Begrenzung der Auswahl] die Balladen von Schiller und Goethe als *wichtig*, als Texte die es zu kennen und anscheinend auswendig zu lernen lohnt. Der Moment des Vortragens kann rückblickend als ein theatraler Moment betrachtet werden, als ein Moment der Vorführung. Das Klassenzimmer veränderte sich für den Zeitraum meiner [unfreiwilligen] Darbietung zu einem Ort der Darstellung - man könnte sagen zu einem *Theater*, also einem Ort in dem mein 9 Jähriges Ich als *Schauspieler* fungierte, während die Lehrerin und die Mitschüler*innen eine Zuschauenden-Position einnahmen. Wir alle waren Zeug*innen eines künstlich hergestellten Umstandes, dessen Funktion es war [von der erzieherischen Konsequenz der Maßnahme einmal abgesehen] Schillers Ballade - wie schon so oft in der Geschichte - aus der Vergangenheit in die damals stattfindende Gegenwart zu holen.

Auf dem Denkmal + Megafon

Vor seinem Löwengarten,
Das Kampfspiel zu erwarten,
Saß König Franz,
Und um ihn die Großen der Krone, Und rings auf hohem Balkone
Die Damen in schönem Kranz.
Und wie er winkt mit dem Finger, Auftut sich der weite Zwinger,
Und hinein mit bedächtigem Schritt Ein Löwe tritt
Und sieht sich stumm Rings um,
Mit langem Gähnen,
Und schüttelt die Mähnen Und streckt die Glieder Und legt sich nieder.
Und der König winkt wieder, Da öffnet sich behend
Ein zweites Tor,
Daraus rennt
Mit wildem Sprunge
Ein Tiger hervor,
Wie der den Löwen erschaut, Brüllt er laut,
Schlägt mit dem Schweif Einen furchtbaren Reif,
Und recket die Zunge,
Und im Kreise scheu Umgeht er den Leu
Grimmig schnurrend,
Drauf streckt er sich murrend Zur Seite nieder.
Und der König winkt wieder;
Da speit das doppelt geöffnete Haus
Zwei Leoparden auf einmal aus,
Die stürzen mit mutiger Kampfbegier
Auf das Tigertier,
Das packt sie mit seinen grimmigen Tatzen, Und der Leu mit Gebrüll
Richtet sich auf, da wirds still;
Und herum im Kreis,
Von Mordsucht heiß,
Lagern sich die greulichen Katzen.
Da fällt von des Altans Rand
Ein Handschuh von schöner Hand Zwischen den Tiger und den Leun Mitten hinein. Und zu Ritter Delorges spottender Weis Wendet sich Fräulein Kunigund:
"Herr Ritter, ist Eure Lieb so heiß,
Wie Ihr mirs schwört zu jeder Stund,
Ei, so hebt mir den Handschuh auf."
Und der Ritter in schnellem Lauf
Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger
Mit festem Schritte,
Und aus der Ungeheuer Mitte
Nimmt er den Handschuh mit keckem Finger.
Und mit Erstaunen und mit Grauen
Sehens die Ritter und Edelfrauen,
Und gelassen bringt er den Handschuh zurück, Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde, Aber mit zärtlichem Liebesblick -
Er verheißt ihm sein nahes Glück -
Empfängt ihn Fräulein Kunigunde.
Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht: "Den Dank, Dame, begehr ich nicht", Und verläßt sie zur selben Stunde. 


Emil, Frank und Irem singen Kanon mit Megafon

Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute,
Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten;
Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute
Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten, Und derbe Knochen, die sich tödlich 
schlugen, Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten. 


Musik


Frank
Während ich in Paris war, las ich Goethe. Man hatte mir eine Übersetzung seiner Sämtlichen Werke geschickt, damit ich sie in einer Zeitung bespräche, und ich las immer wieder darin, um sie mir anzueignen oder dem Vergessen zu überantworten, einer Ansicht folgend, die ich da und dort schon zum Ausdruck gebracht habe, aber zu flüchtig und zu knapp, denn dieser Mann verdient es wohl, daß man sich einmal die Zeit nimmt, ihm ein paar gezieltere, härtere, tiefergehende Schläge zu versetzen... 

Emil
Goethe, dieser Neugierige, der alles ausprobiert hat, der alles sein wollte und für alles gehalten worden ist – was in seinem Bewusstsein die Hauptsache war –, kann nur scheibchenweise auseinandergenommen und serviert werden. Dieser Goethe las viel und erfand nichts. Niemand liebte es wie er, sich immer wieder den Boden unter den Füßen wegzuziehen, sich zu plagen, sich auseinanderzunehmen und wieder neu zusammen- zusetzen. Das nannte er Kunst. Er hatte, wenn es darum ging, seine Werke umzuarbeiten, die Geduld eines Insekts, das einen Strohhalm mit sich schleppt oder einen Gang in die Wandvertäfelung bohrt. 

Frank
Aber dem Insekt ist die Geduld eigentümlich. Das Genie hingegen ist ungeduldig; Ich frage euch: wenn man ein unerhörtes Genie ist, kann man dann unerhört langweilig sein?“ 

Irem
Oh ja. Diese diluvianischen Ergüsse von Langeweile, denen selbst die abgehärtetsten Leser*innen nicht mehr standhalten können. Man löst sich in ihnen auf und behält dabei noch das Bewusstsein der Langeweile, die uns ertränkt und uns umbringt, ohne uns umzubringen. Die Langeweile kommt eben von der Abwesenheit des Lebens. Goethe hat nicht die Macht, uns intensiv leben zu lassen. Er läßt kalt, weil er selber kalt ist, kalt wie seine Technik. Es ist der kleinmütige Verzicht auf alles was ist, der wiederkäuende Genuss des Lebens; und das Leben ist die Gesamtheit der Dinge, unter denen die Persönlichkeit schmerzlos den Geist aufgibt. 

Emil
Und diese unermeßliche Langeweile, in der ich Goethes Stärke sehe, war seine einzige schöpferische Leistung. Er ist ein Marmor in Dutzendware, eine tote schulmäßige Tradition. Man sagt: „DER GROSSE GOETHE“, das ist alles. 

Frank
Meiner Ansicht nach handelt es sich bei ihm daher mehr um einen Charakter als um ein Genie: Ein Charakter will immer das gleiche. Also weit eher Gelehrter als Erfinder, war Goethe zeit seines Lebens nichts anderes als ein Übersetzer und Bearbeiter.
Seine Gelehrtheit, die sich an allem rieb und von überall ein wenig, manchmal glänzenden, Staub mitbrachte, der an seinen großen Nachtfalterflügeln haftete – denn die Gelehrtheit arbeitet beim Licht einer Lampe, die nach Öl riecht – ja! seine Gelehrtheit machte Goethe (so muß man annehmen) und das Publikum, das sich bis heute täuschen läßt, glauben, daß es ein dichterisches Leben in diesem menschlichen Gips gab, während da nur Haltung und Anschein war. 

Irem
Genau. Wie auch Faust, das Meisterwerk Goethes, das nicht seinem Kopf entsprungen sondern über andere, erfinderische Köpfe in den seinen hineingelangt ist. Dieser gewaltige literarische Schuhflicker hat eben die alten Fäuste hergenommen und sie umgestaltet, um seinen eigenen daraus zu machen. Faust besteht nur aus einem unzusammenhängenden Wust ohne jedwede Art von Komposition, aus lebenden Bildern – wenn sie denn leben –, und über diese Tableaux, die einander folgen, aber sich nicht erzeugen, ist dann eine mediävistische Gelehrtheit gegossen. In Wahrheit erweckt Faust den Eindruck einer Laterna Magica. 

Emil
Einer was? Was ist denn jetzt eine Laterna Magica? 

Irem
Die Laterna Magica ist ein Projektsionsgerät. Es geht hier also im weitesten Sinne um Projektion. 

Emil
Ah ja. Ganz richtig. Der Faust von 1833 ist eben nicht einmal ansatzweise zu verstehen. Man begreift nicht, wie Goethe sein ganzes Leben lang eine solche Masse an mythologischem Kinderkram in sich aufnehmen konnte, um sein Alter damit zu vertun, sie der menschlichen Gattung ins Gesicht zu rülpsen. Das ist ein Geschwätz ohne jedes Maß. Er atmet darin sein Deutsch, wie es vor dem Protestantismus war, und dieser üble Geruch dient ihm als Parfum. Wenn man inmitten aller Synkretismen von Goethes Denken, der sich in seinen Memoiren rühmt, sich dreimal vom Katholizismus befreit zu haben, noch ein paar poetische Atome findet, so verdankt er sie diesem Katholizismus. 

Frank
Er verdankt sie nicht seinem eigenen Genie. Er eignet sich nur für die Wirkung dessen. Und das ist doch das beste, was einem passieren kann, wenn man nicht in der Lage ist, über sich selbst hinauszuwachsen. 

Irem
Wenn er eine durchlässigere Seele gehabt hätte, so hätte er Wirkungen von einer Schönheit gewinnen können, die sich der Skeptizismus seines Geistes und seines Herzens wohl nicht träumen ließ. Goethe war (im eigentlichen Sinn des Wortes) niemals verliebt. Aber in Goethes Werken ist immer nur dieser eine Typ Frau lebendig und wahr. Alle seine Mädchengestalten sind Gretchens.
Sie, die Goethe erhöhen und indem sie ihm Ihre Größe leihen, zeigen, wie klein er selbst von Natur aus ist, dieses literarische Chamäleon, das die Farbe jeder Umgebung annimmt, die es durchmißt. 

Emil
Da Goethe doch, willentlich und von Natur aus, die Dinge nie anders als von außen her betrachtet, ist er viel mehr Auge als Gehirn, und er rühmt sich dessen noch. Dieser Augenmensch, der immerzu von seinen Augen sprach, der nur durch seine Augen lebte, ließ sie nie in Gold und Purpur baden. Dem Haus dieses Dichters fehlte es im Innersten an Poesie. Dieser Liebhaber von schönem Marmor umgab sich nur mit Gips. 

Irem
Genau. Es ist diese Ernsthaftigkeit, die aus Goethe das gemacht hat, was er ist — also diese moralische Mumie, die nie gelebt hat und aus der man einen großen Mann machen will! Aber wenn man diesem Mann einen solchen Ruhm gemeißelt und zugehauen hat, darf die Kritik nicht fürchten, sich zu wiederholen. Goethe, kalt wie ein Walfisch geboren, fehlte, selbst wenn er das Genie gehabt hätte, das ich ihm abspreche, das Substrat des Genies, die Kerze einer Seele, an der er sich hätte entzünden können. Ich glaube, daß geniale Menschen noch größer als ihr Genie sein müssen, um groß zu sein, oder daß ihr Genie mit ihrer Seele wenigstens auf gleicher Höhe stehen muss. Nur mit Leben kann man Leben zeugen, nur mit Feuer Brand entfachen. 

Frank
In Goethes Talent ist nicht ein Atom Petroleum. 

Irem
Er, der immer vom Leben spricht, hat nie eines, wenn er sein eigenes erzählt. Soll man uns doch einen Charakter von ihm nennen, der den Namen eines Charakters verdient durch die Tiefe seiner Ganzheit oder seiner Komplexität! Soll man uns doch eine neue Situation nennen, an die vor ihm noch niemand gedacht hat! Soll man uns doch ein Wort nennen — eins jener Wörter, die durch die Jahrhunderte nachhallen, nachdem sie einmal jemand ausgesprochen hat. Sie werden es nicht finden. 

Musik
Emil auswendig mit Mikrofon


Während wir uns hier in stillschweigender Übereinkunft vor dem Schillerdenkmal versammeln, steht - nicht weit entfernt von uns, auf der anderen Seite des Opernrings - eine weitere Statue. Wir - die unsere Blicke auf sie richten - sollen durch die sechs Buchstaben im Zentrum des Denkmals die Figur als Abbild des Dichters Johann Wolfgang von Goethe verstehen. Der Stein, auf dem die Bronzefigur thront, wurde in einer längst vergangenen Zeit aus den Tiefen der Erde geschlagen um ihn dann - dem Licht und den Blicken der Welt ausgesetzt - so zu bearbeiten, dass daraus ein Postament entsteht. Eine Platform an dessen Rändern wir uns niederlassen können um - sollte sie uns abhanden gekommen sein - wieder Kraft zu sammeln für die Wege die noch vor uns liegen. Was die Personen, die für die Errichtung und die Herstellung des Denkmals zuständig waren, nicht hätten ahnen können, ist, dass der Granit aus dem das Denkmal zu großen Teilen besteht, eine erhöhte Radioaktivität aufweist - eine Strahlung, die erst zu einem späteren Zeitpunkt - einem Zeitpunkt an dem Unsichtbares messbar wurde - festgestellt werden konnte.
So treten wir mit dem Abbild eines Dichters in einen feinstofflichen Austausch, der als ein *gefährlicher* bzw. *riskanter* betrachtet und beschrieben werden kann. Ein radioaktives Phänomen, das zwar [so sagt man] die Gesundheit unserer Körper nicht beeinflusst aber  dennoch eine [dem eigenen Körper innewohnende] Veränderung bewirkt und hervorruft und dessen Auswirkungen niemand so richtig vorhersehen kann. Weder für den Zeitraum dieser Versammlung noch für alle anderen Zeiträume unseres Daseins [und des Daseins noch nicht existierender Zivilisationen] scheint es also kein Entkommen zu geben, von den unsichtbaren Einflüssen und Kräften, die von Goethes Denkmal ausgehen, ungefragt in unsere Körper dringen und uns und unser Denken verändern bzw. uns zu den Menschen machen, die wir sind. So gehen wir mit neuen Kräften - von den Stufen des strahlenden Denkmals aus - hinein in die Welt, während in uns ein unabwendbarer Prozess in Gang getreten ist und suchen nach anderen Orten an denen neue Formen des Zusammenwirkens imaginiert, gefunden und möglich werden können. 

Lied [Es brennen die Berge und die Wälder / Rote Gitarren]
Das Schillerdenkmal wird zum Geist gemacht


Nichts kann mir dich nehmen, nicht der dichste Strauch,
nicht der schmalste Steg, nicht der längste Weg.
Hört nur,
geht mal sehen,
was auch immer war, trotz des tiefen Leid halt einmal die Zeit.
Es brennt der Wald im Abendrot
es blüht der Berg, wenn Sonne loht.
So brenn` auch ich, mich kühlt kein Wind, ich suche dich bis ich dich find'.
Ich kann so nicht leben, ohne dein Gesicht, ohne dein Bereit,
deine Zärtlichkeit.
Alles kannst du geben stumm und Stille auch, Spiel und Ernst zugleich, du machst mich so reich.
Es brennt der Wald im Abendrot
es blüht der Berg, wenn Sonne loht.
So brenn` auch ich, mich kühlt kein Wind, ich suche dich bis ich dich find'.