L´Orfeo
Bühne + Kostüm

Einreichung für den Ringaward 25 
L’Orfeo von Claudio Monteverdi
Regie: Frieda Lange 

In unserem Konzept von L’Orfeo steht der Tod von Eurydike am Anfang der Handlung. Orpheus hat seine Partnerin und damit eine Zukunft verloren, von der er nicht abzulassen bereit ist. Wir begleiten ihn auf einer Reise durch eine Zeit, die für ihn einerseits stehen geblieben ist und gleichzeitig unaufhaltsam weiterrast. Er durchlebt Trauer, Angst und Verleugnung und kommt schließlich zu der Erkenntnis, dass seine Geschichte nicht mit Erlösung enden kann. 
Inspiriert von dem Buch “The Year of Magical Thinking” von Joan Didion, in welchem sie beschreibt, wie sie nach dem Tod ihres Ehemannes eine Art “magisches Denken” praktiziert, das ihr einen mentalen Raum eröffnet, in dem Erinnerungen und Illusionen wohnen, die den konkreten Tod ihres Mannes vorerst ausrangieren, hält sich Orpheus auch in unserer Inszenierung lange an einem unmöglichen Ort und versteinerten Wunschbildern fest. Das Schlafzimmer, das er sich mit Eurydike geteilt hat, bleibt unberührt, vielmehr klammert er sich an den Wunsch, Vergangenes anhand von Objekten zu fixieren. In alltäglichen Gegenständen manifestiert sich für ihn die Erinnerung an Euridyke, die er gegen die Auflösung verteidigen will. Die immer wiederkehrenden musikalischen Motive wecken in ihm Erinnerungsschleifen, die ihm die Tür zu einem Raum des “magischen Denkens” aufschließen, in welchem er so tun kann, als sei Eurydike entweder nie gestorben, oder könne jeden Moment wieder zur Tür hineintreten. 
Freunde und Bekannte versuchen ihm bei der Bewältigung des Verlustes zu helfen und seine Wohnung mit ihm aufzuräumen, stoßen aber im Umgang mit dem trauernden Freund bald an ihre Grenzen. Schließlich werden sie von Orpheus verlassen, der sich immer weiter in seine Fantasie flüchtet, bis er in seiner eigenen Unterwelt landet, die die Form seiner perfekt ausstaffierten Wohnung hat und in der ihm vom eigenartigen Doppelgänger-Königspaar der Unterwelt ein Leben in dieser Traumvorstellung versprochen wird. Als Orpheus jedoch verzweifelt feststellt, dass ein Leben an diesem Ort nie mehr als eine Wiederholung seiner Erinnerungen sein kann, verlässt er den Raum seines magischen Denkens und findet sich am Anfangspunkt seiner Reise wieder - dem leerstehenden Zimmer, in dem ein Leben fehlt und fehlen muss. 

Die Vorgabe des Ringawards, das Orchester mit einem Klavier zu ersetzen und das Stück ohne Chor aufzuführen, ist für uns ein zentraler konzeptioneller Gedanke, in welchem das Prinzip der Lücke und Abwesenheit musikalisch aufgegriffen wird. Eine einzelne Pianist*in muss die Partitur bewältigen und spiegelt damit Orpheus‘ einsamen Kampf gegen seine Trauer. Das Klavier ist für das Publikum sichtbar, genauso wie eine Sängerin, die an der Seite der Pianist*in verschiedene Rollen singt und immer außerhalb der Bühnenerzählung bleibt - genau wie Orpheus‘ Idee von seiner rettenden sängerischen Kraft, auf die er im ersten Drittel der Oper nicht mehr zugreifen kann. Erst als er in der Unterwelt ankommt und sich ganz seiner Selbsttäuschung hingibt, gelingt es ihm für kurze Zeit, wieder mit voller Kraft zu singen. Hier verdichtet sich die Begleitung, die durch Mikrophone und Lautsprecher nun so verstärkt wird, dass sie den ganzen Raum erfüllt. Ein letztes Mal flammen Orpheus’ Wunschträume auf, bevor sie schließlich mit dem Blick auf Eurydike enttarnt und aufgelöst werden. Übrig bleibt das einsame Klavier vom Anfang, das Orpheus schließlich mit der Bettdecke seines Ehebettes stopft und damit völlig verstummen lässt.



SZENARIUM

Prologo
Der Vorhang ist geschlossen, nur ein Klavier ist sichtbar. Es ist früher Morgen und eine Korrepetitor*in sitzt am Klavier und wartet. Eine Frau tritt zu dem Klavier, die beiden begrüßen sich, die Korrepetitor*in drückt der jungen Frau ein schweres Buch Noten in die Hand, welches sie aufschlägt und die Arie der Musik zu singen beginnt. Nachdem sie einmal durch das Stück gekommen sind und ein paar Kleinigkeiten zur musikalischen Gestaltung besprochen haben, setzen sie sich zusammen ans Klavier, wo die Korrepetitor*in mit der Ouvertüre von L’Orfeo beginnt. Die Sängerin blättert ihr die Noten, während sich der Vorhang öffnet. Gerahmt von dem Spruch *Nach dem Leid das Glück* [welcher auf Orpheus‘ Gesangslinie Dopo il duol vie più contento, Dopo il mal vie più felice aus dem zweiten Akt hinweist] sieht man eine Wohnung, die von einzelnen Kulissenteilen, auf denen ein Wald aufgemalt ist, ergänzt wird. 


1.Akt
Orpheus sitzt in einem liederlichen Bett in seiner ansonsten fast leeren Wohnung. An den verblichenen Wänden deuten ein paar Abdrücke von Möbeln und Bildern auf die frühere Einrichtung hin. Orpheus hört die Musik der Ouvertüre und sieht den Beiden am Klavier zu. Er weint, schluchzt, schreit und lacht, wirft Gegenstände umher, um sie anschließend panisch wieder in eine eigenwillige, alte Ordnung zu bringen. Neben ihm liegt eine alte Frau unter seiner Bettdecke, die ihn kaum beachtet, sondern seelenruhig Zeitung liest. Plötzlich tauchen Gäste in der Wohnung von Orpheus auf. Es sind alte Freunde, die auf eine Einladung hin kommen, welche Orpheus in seinem Kummer selber wieder vergessen hatte. Mit ihrer Ankunft fährt das Klavier langsam in den Orchestergraben hinunter und verschwindet schließlich. Orpheus öffnet zwar die Tür, schleicht sich aber sofort wieder in sein Zimmer und überlässt die Wohnung seinen Gästen, die sich verlegen umschauen und sichtbar überfordert sind, wie sie mit dem trauernden Orpheus und dem vergessenen Abend umgehen sollen. Mit ihnen tritt auch eine Figur auf die Bühne, die sich deutlich von den anderen abhebt und von ihnen auch vorerst nicht wahrgenommen wird. Es ist die Botin, die in festlicher Hochzeitskleidung über die Bühne läuft und nach etwas sucht. Die restlichen Gäste nehmen wegen fehlendem Tisch auf dem Boden der Küche Platz und beschließen, sich nichts anmerken zu lassen, sondern Orpheus damit zu beruhigen, dass sie sich aus den Überbleibseln der Wohnung und einer mitgebrachten Thermoskanne ein Kaffeetrinken zaubern, bei dem alle so tun, als sei es festlich genug. [In questo lieto e fortunato giorno” und anschließender Chor]

Orpheus verlässt sein Zimmer nicht, aber die Gäste spielen Fröhliches Fest [Lasciate i monti] für ihn, das er durch seine Wand hören soll, machen Geräusche mit ihrem Geschirr, singen, lachen und teilen sich ein Pfefferkuchenherz [mit der Aufschrift *Für immer dein*], das noch an der Wand der Wohnung hing. Sie wiederholen immer wieder ihr Lied, in der Hoffnung, damit Orpheus aufzuheitern und ihn aus dem Zimmer zu locken, aus dem sie ihn weinen und wüten hören. Ab und zu schauen sie nach ihm, klopfen sachte an seine Tür und hören ihn schließlich, wie er vergeblich versucht, seine Rosa del ciel-Arie zu singen. Die Gäste merken, dass Orpheus nicht mehr singen kann, aber er selbst sieht in seinem Zimmer nur, wie die alte Frau aus dem Bett ihre Zeitung beiseitelegt und ihm zuhört. Es ist ein vertrauter, liebevoller Moment zwischen Orpheus und einer Eurydike, die es nie geben konnte: einer Frau, mit der er friedlich alt werden wollte. Am Ende des Liebesliedes antwortet die Sängerin aus dem Graben mit Eurydikes Worten, während die alte Frau das Zimmer verlässt, langsam und von den Freunden in der Küche unbemerkt.


2. Akt
Orpheus setzt sich zu den anderen Gästen, die ihn herzlich empfangen. Er beginnt zu singen [Ecco pur ch’a voi ritorno] und obwohl es ihm sichtlich schwer fällt, lässt sich dies keiner der Freunde anmerken, die ihn stattdessen bestärken und seinen Gesang loben. Während sie gemeinsam essen und trinken, werden sie für Orpheus mit jeder musikalischen Wiederholung mehr zur Feiergesellschaft seiner Hochzeit. Orpheus ist glücklich, er hält eine übermütige Rede [Vi ricorda, o bosch‘ombrosi], schließt die Freunde in seine Arme und lässt sich von ihnen feiern, bis plötzlich die Botin ins Zimmer tritt und ein leeres Terrarium vor sich herschiebt. Die Schlange, für die es einst gekauft und ausgestattet wurde, ist nicht zu sehen, stattdessen singt die Botin in ihrem Bericht von einem tödlichen Schlangenbiss, an dem Eurydike gestorben ist und holt damit die schlimmste Erinnerung von Orpheus hervor. Die Stimmung ist wie verwandelt, Orpheus fällt in sich zusammen und die Gäste versuchen nun, ihn zu überreden, sein Zimmer aufzuräumen und sich von den hinterbliebenen Gegenständen von Eurydike zu trennen. Die Versuche prallen an Orpheus ab, der noch nicht bereit ist, sich von diesen Objekten und der irrationalen Überzeugung einer Rückkehr seiner Frau zu lösen. Kleinere Streitereien beginnen, insbesondere, als einer der Gäste versucht, Hausschuhe von Eurydike wegzupacken, von denen Orpheus überzeugt ist, dass sie Eurydike noch brauchen wird. Er läuft mit den Schuhen davon und lässt die Gäste zurück. Die Bühne dreht sich und man sieht die Freunde von Orpheus, wie sie wenig später mit einer Nachlassverwaltung beginnen [Chi ne consola ahi lassi]. Sie ordnen Eurydikes Kleidung, Alltagsobjekte, Erinnerungs- und Dekorationsstücke sorgfältig auf Tischen an und erzählen anhand dieses Vorganges auf eine zärtliche Weise aus dem Leben von ihrer Freundin, während Orpheus fernab des Geschehens auf der Hinterbühne wartet. 


3. Akt
Die Bühne dreht den Wohnraum nach hinten und zum Vorschein kommen die Steine und Äste, die vorher im Terrarium sichtbar waren, nur diesmal überlebensgroß. Orpheus kauert zwischen ihnen, die Schuhe fest in der Hand, in absoluter Einsamkeit und Stille, bis plötzlich der Orchestergraben langsam hochfährt und das Klavier sichtbar wird. Die junge Frau, die im Prolog zu Singen geübt hat, steht wieder am Klavier und blickt Orpheus an, der in ihr Eurydike erkennt. Sie singt mit ihm das Duett der Hoffnung und übergibt ihm einen Anzug, durch den er wieder zum Sänger werden kann.

Einer der Freunde aus seiner Wohnung, Charon, tritt auf ihn zu, sieht seine neue Verkleidung und die Schuhe in seiner Hand und versucht ihn zu überreden, wieder mit ihm in die Wohnung zu kommen. [Ben mi lusinga alquanto] Orpheus protestiert jedoch und bemerkt, dass seine Stimme wieder die alte Kraft hat. Tatsächlich verändert sich die Musik und wird so verstärkt, dass sie nun den ganzen Raum mit einem satten Klang erfüllt. Charon versteht, dass ihn die Aufgabe überfordert, seinem trauernden Freund in diesem Moment zu helfen und beendet seinen mühsamen Widerstand, sodass sich die Bühne weiterdrehen und Orpheus seinen Weg in die Unterwelt aufnehmen kann. [Ei dorme, e la mia cetra]


4.Akt
Auf der Bühne taucht nun der gleiche Raum wie am Anfang auf, mit dem Unterschied, dass alle Objekte nun an ihrer ursprünglichen Stelle stehen und hängen. Die Flecken an der Wand sind nun wieder mit Bildern überhangen, in dem Terrarium liegt die Schlange und in der Küche steht ein Tisch mit Stühlen. In dem Bett von Orpheus sitzt nun aber ein eigenwilliges altes Paar, verkleidet als Königin und König. Es sind Proserpina und Pluto, die Herrscher der Unterwelt, die darüber diskutieren, ob sie Orpheus und Eurydike in dieser Wohnung wohnen lassen können. [Signor, quell‘infelice]

Orpheus belauscht die beiden und ist überglücklich, dass Pluto einwilligt, die Verstorbene zu Orpheus zu lassen. Proserpina und Pluto steigen aus dem Bett, schütteln Decke und Kissen aus und setzen sich zu Orpheus an den Tisch. Die Gäste vom ersten Akt treten in die Wohnung und wiederholen die frühere Hochzeitsszene, tragen nun aber eine eigenartige Mischung aus Eurydikes Kleidern und papiernen Masken. [Coro di Spiriti, Pietade, oggi, e Amore] Sie feiern das Liebesglück von Orpheus und Eurydike, die nun als alte Braut den Raum betritt und mit ihm tanzt. Nach dem Tanz verabschieden sich die Gäste und Orpheus und Eurydike bleiben alleine zurück. Man sieht nun, wie Eurydike alle von Orpheus im ersten und zweiten Akt vorbereiteten Dinge füllt: Sie setzt sich genau an die Stelle, die Orpheus vorher freigeräumt hat, schlüpft in die Hausschuhe, trinkt aus dem Wasserglas neben ihrem Bett. Doch peu à peu verändert sich die Musik und wird immer leiser. [Qual onor di te fia degno] Es ist nun nur noch das einzelne Klavier, das da spielt und Orpheus Stimme wird wieder brüchig und unsicher. Während Orpheus Eurydike im Wiederholen der von ihm ausgerichteten Rituale beobachtet, wird er traurig und versucht, die Wohnung mit Eurydike zu verlassen, die sich aber nicht beirren lässt. Orpheus versteht langsam, dass sie beide in einem Konstrukt gefangen sind, in dem Eurydike niemals unabhängig von ihm existieren kann und nun als Blaupause einer Erinnerung viel kleiner ist, als sie es zu ihren Lebzeiten tatsächlich war. Er betrachtet das Terrarium, in der die Schlange in ihrer winzigen, künstlichen Welt festgehalten wird und öffnet es im Moment des notierten Umdrehens, woraufhin Eurydike ihren Schleier lüftet, das echte Tier aus dem Glaskasten hebt und damit abgeht. [Ahi, vista troppo dolce]


5.Akt
In seinem Duett mit dem Echo verarbeitet Orpheus die Erkenntnis, dass ihn die endlose Wiederholung nicht retten kann. Währenddessen läuft er langsam durch die Terrariumslandschaft zurück, bis er wieder am Startpunkt, in seiner alten, leergeräumten Wohnung, landet. Ein Hausmeister [Apollo] saugt gerade die Bühne und Orpheus findet in der zufälligen Begegnung mit diesem Fremden Trost. [Perché a lo sdegno e al dolor in preda] Der Hausmeister drückt ihm das Bettzeug in die Hand, das noch in der Wohnung lag und Orpheus nimmt es, um es in das Klavier zu legen und damit die Hämmerchen zu blockieren. Bei dem letzten Stück der Oper [Moresca] drückt die Korrepetitor*in zwar noch auf die Tasten, aber es ist nichts mehr zu hören. Orpheus klettert auf die Leiter, die der Hausmeister mitgebracht hat. Während der Orchestergraben langsam wieder hinabfährt, um in den Tiefen des Theaters zu verschwinden, steigt er kontinuierlich die Sprossen hinauf - auf dem Weg in eine Welt, in der lernen muss, alleine zu sein.